Falldarstellung Wiederherstellung Eckzahnfuehrung

Die Wiederherstellung der Eckzahnführung

Eine Falldarstellung

Behandelnder Zahnarzt: Dr. Andreas Sielemann

Erschienen im Quintessenz-Verlag: PDF herunterladen

Laut der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) ist die Eckzahnführung eine dynamische Okklusion zwischen Ober- und Unterkiefereckzähnen (1). Das bedeutet, dass die Eckzähne bei der Seitwärtsbewegung die Gleitbahn für die antagonistischen Zähne bilden, während gleichzeitig die Seitenzähne kontaktfrei werden.

Durch die Erkenntnisse der Gnathologie gilt die Eckzahnführung als wesentlicher Bestandteil eines natürlichen Schutzkonzepts der physiologischen und dynamischen Okklusion. Sie kann auch als Schutzmechanismus betrachtet werden, der durch Disklusion die Seitenzähne vor Überbelastung im Kauvorgang bewahrt und dabei die Kaumuskelaktivität verringert (2). In diesem Zusammenhang wird die Eckzahnführung auch als eckzahngeschützte Okklusion betrachtet.

Bei fehlender Eckzahnführung werden die weiter distal gelegenen Zähne unphysiologisch belastet. Klinisch sind die häufigsten Folgen Defekte an den Zahnhälsen mit Überempfindlichkeiten, pulpitischen Schmerzen, Zahnlockerungen, Gingivitis und Parodontitis bis hin zum Zahnverlust (3).

Dem Zahnarzt sollte bewusst sein, dass auch funktionelle Probleme durch Verlust oder Abnutzung der Eckzahnführung verursacht werden können (4). Der nachfolgende Behandlungsfall stellt ein solches Beispiel dar.

Ausgangssituation

Die 23-jährige Patientin wurde uns von ihrer Physiotherapeutin zur Behandlung unklarer Schmerzen in beiden Gesichtshälften unter Beteiligung der Halswirbelsäule überwiesen. Die Patientin berichtete trotz vorrausgegangener Schienentherapie durch den Hauszahnarzt über anhaltende Schmerzen in der Kau- und Nackenmuskulatur und in den Kiefergelenken. Nach manueller Funktionsanalyse und ausführlicher Aufklärung über die Behandlungsoptionen entschied sie sich für die Rekonstruktion der Eckzahnführung nach dem funktionstherapeutischen Konzept „FuKoSi“ von Dr.Andreas Sielemann aus Mainz.

Ausgangssituation fehlende Eckzahnführung

Intra und extraoraler Befund

Die Patientin wurde zunächst im Rahmen einer Funktions- und Strukturanalyse untersucht und befundet. Es zeigten sich folgende Auffälligkeiten:

  • starke Schlifffacetten im Seitenzahnbereich und starke Attritionsdefekte der Eckzähne bei bilateraler Gruppenführung und fehlender Protrusionsführung (Abb.1 und 2),
  • Vorkontakte an den Molaren beidseits und bei Laterotrusion entstandene Nonokklusion an den Prämolaren,
  • hypermobile Kiefergelenke in der Seitwärtsbewegung,
  • deutliche Aktivitätssteigerung (Hypertonus) des M. masseter rechts in der Elektromyographie
  • unauffällige habituelle Unterkieferlage/Ruhelage.

Therapie

Die initiale Therapie beschäftigte sich zunächst mit der myofunktionellen Fehlfunktion. Dafür wurden die Eckzähne 13/23 und die Frontzähne 11/21 mit reversiblen palatinalen und inzisalen Kunststoffveneers aufgebaut. So konnte festgestellt werden, wie steil die Eckzahnführung rekonstruiert werden musste. Außerdem wurde die Protrusionführung damit gesichert.

Anschließend wurden die Gewebe des stomatognathen Systems der Patientin mithilfe von manuellen physiotherapeutischen Techniken (10 Sitzungen à 40 Minuten über 2 Monate) relaxiert und mobilisiert. Als begleitendes therapeutisches Hilfsmittel trug die Patientin eine „Jig-Schiene“ (Front-Aufbiss-Schiene) im Oberkiefer. Diese entlastete die Strukturen des Kausystems und hatte das Ziel die Muskelspannung zu senken (Detonisierung).

Präparation und wiederhergestellte Eckzahnführung

Die anschließende funktionelle Kontrolle zeigte die Notwendigkeit von kleinen subtraktiven Einschleifmaßnahmen, um die bestehenden okklusalen Störkontakte auszugleichen. Die verbleibende Nonokklusion an den Prämolaren wurde unter Berücksichtigung der natürlichen Ruheschwebelage von 3mm durch Kompositaufbauten korrigiert. Damit konnte eine stabile okklusale Beziehung von Ober- zu Unterkiefer erreicht werden.

Es folgten 6 therapiefreie Monate. In dieser Zeit wurde die Adaptation der Patientin an die neugestaltete Eckzahnführung überprüft.

Da sich das Therapieergebnis stabil zeigte, wurden nun keramische Funktionsveneers für die Zähne 13, 23, 11 und 21 (Abb. 3 und 4) angefertigt. Diese dienen dem langfristigen Erhalt der erreichten Situation.

Diskussion

Die Patientin ist heute, 1 Jahr nach der Wiederherstellung der Front- Eckzahnführung (Abb. 5 und 6), weiterhin beschwerdefrei und okklusal stabil. Sie zeigt damit, wie wichtig es ist, eine nicht vorhandene Eckzahnführung zu rekonstruieren. Denn parafunktionelle Fehlbelastungen führen zu Funktionsstörungen im stomatognathen System. Das erzeugt Symptome, die vom Zahnarzt eine besondere Sorgfalt in der Diagnostik und eine interdisziplinäre Therapie gemeinsam mit dem Physiotherapeuten benötigen (5).

Die Einschleifmaßnahmen sind irreversibel. Deshalb dürfen sie nur nach vorangehender Funktionsanalyse und bei Vorliegen von eindeutigen Störkontakten als Ursache des Beschwerdebildes erfolgen (6).

Darüber hinaus ist immer zu berücksichtigen, dass der menschliche Kauapparat ein biologisches System ist und sich durch Abnutzung und Belastungen verändert. Auch eine einwandfreie Eckzahnführung mit suffizienter statischer Okklusion benötigt darum zeitlebens ein funktionelles Screening durch den Zahnarzt.

Fazit

Die Funktion war in den 1970er und in den 1980er Jahren das beherrschende Thema in der Zahnmedizin. Nachdem die Funktionsanalyse den gesundheitspolitischen Sparmaßnahmen zum Opfer fiel, ist viel Grundwissen über Funktion verloren gegangen. Der erfahrene Zahnarzt weiß, dass die aktive präprothetische und funktionsanalytische Diagnostik vernachlässigt worden ist. Insbesondere in diesem Punkt sollte in der Ausbildung an den Universitäten etwas getan werden. Es ist wichtig, den Fokus im Studium mehr auf die Grundlagen der funktionellen Zahnheilkunde zu legen und sie dem jungen Zahnarzt adäquat zu vermitteln. Ebenso muss der niedergelassene Zahnarzt die funktionelle Kontrolle eines jeden Gebisses ernst nehmen. Dies gilt z.B.auch bei jungen Menschen nach KFO-Maßnahmen.

Literatur

  1. Ahlers MO et al. Terminologie der Arbeitsgemeinschaft für Funktionsdiagnostik und Therapie (DGFDT) und der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde (DGzPW). Dtsch Zahnärztl Z. 2011;61.
  2. Belser UC, Hannam AG. The influence of altered working-side occlusal guidance on masticatory muscles and related jaw movement. J Prosthet Dent 1985;53:406–413.
  3. Ott RW, Pröschel P. Zur Ätiologie des keilförmigen Defektes. Ein funktionsorientierter epidemiologischer und experimenteller Beitrag. Dtsch Zahnärztl Z. 1985;40:1223–1227.
  4. Ott RW, Lechner KH. Eckzahnführung und muskuläre Reaktionen. Eine epidemiologische und experimentelle elektromyographische Studie. Dtsch Zahnärztl Z. 1989;44:30–33.
  5. Wolff HD. Gestörte Halswirbelsäule mit Gesichts- und Kopfschmerzen– orthopädische manualmedizinische Aspekte. In: Siebert GK (Hrsg.). Gesichts- und Kopfschmerzen– Ein interdisziplinärer Überblick für Mediziner, Zahnmediziner und Psychologen. München: Hanser, 1992:316–346.
  6. Ernst A, Freesmeyer WB. Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich: für Mediziner und Zahnmediziner. Stuttgart: Thieme, 2007.